Die neue EU-Richtlinie zur Entgelttransparenz schafft verschärfte Compliance-Anforderungen, die weit über materielle Lohngerechtigkeit hinausgehen. Eine rechtliche Analyse für Praktiker.
Die gefährliche Fehleinschätzung
Zuletzt begegnet uns eine durchaus gefährliche Denkfalle recht häufig: Unternehmen, die ihre Mitarbeitenden fair und diskriminierungsfrei bezahlen, glauben sich auf der sicheren Seite. Die EU-Entgelttransparenzrichtlinie sei für sie nicht wirklich relevant – schließlich praktiziere man bereits Lohngerechtigkeit.
Diese Einschätzung verkennt die Rechtslage fundamental. Die Richtlinie fordert nicht primär faire Gehälter, sondern vor allem nachweisbare, formalisierte Transparenz- und Dokumentationssysteme. Entscheidend ist rechtlich nicht allein, wie vergütet wird, sondern was im Streitfall auch beweisbar ist.
Besonders prekär wird dies für Unternehmen, die tatsächlich diskriminierungsfrei vergüten. Inhaltlich können die Anforderungen erfüllt sein, doch ohne die von der Richtlinie geforderte Formalisierung lässt sich die eigene Position vor Gericht nicht verteidigen.
Dabei trifft diese Problematik nicht nur große Konzerne. Gerade mittelständische Unternehmen mit überschaubaren Belegschaften unterschätzen häufig die Compliance-Anforderungen, weil sie sich ihrer fairen Vergütungspraxis sicher sind. Doch die Vorgaben gelten für alle Arbeitgeber – unabhängig von der Unternehmensgröße.
Verschärfung der Beweislast
Die Richtlinie erweitert und verschärft die Beweislastumkehr erheblich und schafft damit eine substantiell veränderte Risikosituation für Arbeitgeber.
Erstens senkt die Richtlinie durch erweiterte Auskunftsrechte und konkretere Vergleichbarkeitskriterien die Schwelle für Arbeitnehmende, die erforderlichen Indizien vorzutragen, erheblich. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast auf Arbeitgeberseite.
Zweitens – und das ist dogmatisch neu – greift die Beweislastumkehr künftig automatisch bei bestimmten Compliance-Verstößen, auch ohne dass Arbeitnehmende zunächst Indizien für eine Diskriminierung vortragen müssen. In diesen Fällen obliegt dem Arbeitgeber der präventive Nachweis, dass keine Diskriminierung vorliegt.
Dies betrifft insbesondere:
- Fehlende oder unvollständige Gehaltsangaben in Stellenausschreibungen
- Fragen nach früheren Gehältern im Bewerbungsprozess
- Vorenthalten von Informationen über die objektiven Kriterien der Entgeltfindung
- Nicht oder nicht fristgerechte Beantwortung von Auskunftsanfragen
- Verstoß gegen Berichtspflichten ab 100 Mitarbeitern
- Fehlende gemeinsame Entgeltbewertung bei festgestellten Gehaltsunterschieden
Diese automatische Beweislastumkehr bedeutet: Bereits ein formaler Verstoß gegen Transparenzpflichten kann ausreichen, um prozessual in Beweisnot zu geraten – selbst bei materiell diskriminierungsfreier Vergütung.
Die prozessuale Falle in der Praxis
Betrachten wir ein typisches Szenario: Ein männlicher Mitarbeiter verdient 48.000 EUR, eine Kollegin in vergleichbarer Position 44.000 EUR. Nach neuem Recht erhält sie durch die erweiterten Auskunftsrechte umfassende Informationen: Vergleichbare Tätigkeit, erkennbarer Gehaltsunterschied, detaillierte Daten über Entgeltstrukturen. Das erleichtert es erheblich, die geforderten Indizien für eine Gehaltsdiskriminierung vorzutragen und den Arbeitgeber unter Zugzwang zu setzen.
An dieser Stelle muss dieser objektiv nachweisen:
- Welche objektiven, geschlechtsneutralen Kriterien für die Gehaltsfestsetzung verwendet wurden
- Wie diese Kriterien konkret innerhalb der Vergleichsgruppe angewendet wurden
- Welche unterschiedlichen Bewertungen sich ergaben (höhere Qualifikation, mehr Verantwortung, bessere Performance)
- Dass diese objektiven und neutralen Faktoren das Gehaltsgefälle vollständig erklären
Was dabei nicht ausreicht, sind nachträgliche Rechtfertigungen oder allgemeine Aussagen wie "Wir bezahlen fair", "Der Mitarbeiter hatte besser verhandelt" oder "Das war schon immer so". Sobald objektiv ein Entgeltgefälle besteht und Arbeitnehmende Indizien vortragen, muss die Nicht-Diskriminierung entsprechend den EU-Vorgaben lückenlos nachgewiesen werden. Gelingt das nicht, tragen Arbeitnehmende keine weitere Beweislast. Fehlende oder unzureichende Dokumentation führt somit regelmäßig zum Verlust des Rechtsstreits.
Bestehende Entgelttabellen oder interne Systematiken reichen nicht aus, wenn sie nicht explizit auf den vier EU-Hauptkriterien (Kompetenzen, Belastungen, Verantwortung, Arbeitsbedingungen) basieren und alle Gehaltsentscheidungen entsprechend dokumentiert sind.
Vergleichbarkeit über Abteilungsgrenzen hinweg
Ein zusätzliches Risiko: Die EU-Vorgaben sehen ausdrücklich vor, dass die Vergleichbarkeit von Tätigkeiten über Abteilungsgrenzen hinweg geprüft werden muss. Die Stelle „Teamassistenz Vertrieb" könnte also durchaus mit „First Level Support IT" vergleichbar sein, wenn die Tätigkeiten nach den vier EU-Kriterien insgesamt als gleichwertig bewertet werden. Das erweitert die Vergleichsgruppen erheblich und macht eine unternehmensweite, systematische Stellenbewertung zwingend erforderlich.
Neue Pflichten im Überblick
Auskunftspflicht: Was Mitarbeitende verlangen können
Jeder Arbeitnehmende hat ab dem Stichtag das Recht, binnen zwei Monaten nach Antragstellung Auskunft zu erhalten über:
- Das eigene individuelle Einkommen
- Durchschnittliche Entgelthöhen, aufgeschlüsselt nach Geschlecht
- Informationen über Gruppen von Arbeitnehmenden, die gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichten
- Das Durchschnittsgehalt (nicht mehr nur Medianwert)
Dieses Recht besteht für alle Beschäftigten, unabhängig von der Unternehmensgröße. Die bisherigen Einschränkungen (200-Mitarbeiter-Schwellenwert, Vergleichsgruppengröße von mind. sechs Personen) entfallen vollständig. Arbeitnehmende müssen zudem jährlich über das Bestehen dieses Rechts informiert werden.
Informationspflicht: Was muss man kommunizieren?
Zusätzlich zur Auskunftserteilung auf Anfrage müssen Arbeitgeber proaktiv informieren:
Vor der Bewerbung: Stellenbewerber haben das Recht auf Informationen über das Einstiegsgehalt oder dessen Spanne – beispielsweise in Stellenausschreibungen oder vor dem Vorstellungsgespräch. Bewerber dürfen nicht nach ihrem laufenden oder früheren Gehalt gefragt werden.
Während des Arbeitsverhältnisses: Es müssen proaktiv Informationen über die objektiven, geschlechtsneutralen Kriterien für die Festlegung des Entgelts und der Laufbahnentwicklung zur Verfügung gestellt werden.
Diese Informationspflichten gelten grundsätzlich für alle Arbeitgeber, wobei die EU-Richtlinie es nationalen Gesetzgebern erlaubt, Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten hiervon auszunehmen. Ob Deutschland diese Möglichkeit nutzen wird, ist derzeit noch offen.
Berichtspflicht: Ab welcher Größe?
Für Unternehmen ab einer bestimmten Größe besteht eine Berichtspflicht über das geschlechtsspezifische Entgeltgefälle. Die EU-Richtlinie sieht diese zwingend ab 100 Mitarbeitern vor, wobei der nationale Gesetzgeber von dieser Vorgabe nur nach unten hin abweichen kann.
Was konkret zu tun ist
1. Stellenbewertung nach EU-Kriterien
Der Kern ist ein objektives Job-Evaluation-Framework basierend auf den vier EU-Hauptkriterien: Kompetenzen (Wissen, Fähigkeiten, Bildung, Qualifikation, Erfahrung), Belastungen (psychische oder physische Erschwernisse, Stressfaktoren), Verantwortung (Personalführung, Prozessverantwortung, Führungsaufgaben) und Arbeitsbedingungen (Aufgaben, Arbeitsmittel, Schichtarbeit, Umwelteinflüsse).
Diese vier Faktoren sind als Grundlage ausreichend, können aber um weitere, tätigkeitsspezifische Kriterien ergänzt werden. Arbeitgeber müssen diese Kriterien für das eigene Unternehmen konkretisieren, gewichten und jede Position quantitativ bewerten.
2. Dokumentationssystem etablieren
Erforderlich ist ein System, das jede Gehaltsentscheidung mit objektiver Begründung dokumentiert und revisionssicher archiviert. Die EU-Richtlinie fordert eine mindestens 3-jährige Verjährungsfrist ab Kenntnis der Diskriminierung, wobei Verwirkungsklauseln unzulässig sind.
3. Bestehende Gehälter dokumentieren
Alle bestehenden Gehaltsentscheidungen müssen dokumentiert, mit den EU-Kriterien abgeglichen und geeignet archiviert werden. Da unternehmensweit alle bisherigen Entscheidungen betroffen sind, empfiehlt sich ein frühzeitiger Start. Die Rekonstruktion von Gründen wird mit wachsendem Zeitablauf deutlich schwieriger.
4. Auskunft und Information sicherstellen
Es braucht einen Workflow, der garantiert, dass Auskunftsanfragen innerhalb von zwei Monaten beantwortet werden. Arbeitnehmende können die Auskunft auch über ihre Arbeitnehmervertretung oder die (vom Gesetzgeber noch zu benennende) Gleichbehandlungsstelle anfordern. Zusätzlich werden standardisierte Vorlagen für die proaktive Information über Entgeltkriterien und Karriereentwicklung benötigt.
5. Recruiting-Prozesse anpassen
Alle Stellenausschreibungen müssen Informationen über das Einstiegsgehalt oder dessen Spanne enthalten. Fragen nach bisherigen Gehältern sind unzulässig, ebenso wie Vertraulichkeitsklauseln zu Gehältern in Arbeitsverträgen. Das erfordert neue Templates, angepasste Interview-Leitfäden und die Schulung aller Führungskräfte.
Zeitaufwand und Planung
Der Gesamtimplementierungsaufwand variiert erheblich mit der Unternehmensgröße und Komplexität der Vergütungsstrukturen. Für kleinere Unternehmen (ca. 50 Mitarbeiter) liegt der Aufwand bei schätzungsweise 220–310 internen Arbeitsstunden. Größere Organisationen müssen mit entsprechend höherem Aufwand rechnen. Hinzu kommt möglicherweise erforderliche externe rechtliche Beratung sowie ein beständiger Mehraufwand nach der Implementierung.
Diese Schätzungen basieren auf durchschnittlich komplexen Vergütungsstrukturen und können je nach Ausgangslage variieren.
Zeitlicher Rahmen: Bei Start heute verbleiben weniger als neun Monate bis zum Stichtag 7. Juni 2026 – eine durchaus knappe Zeitspanne für eine Implementierung dieser Komplexität.
Was bei fehlender Compliance droht
Gehaltsnachzahlungen
Das größte finanzielle Risiko besteht in der rückwirkenden Nachzahlung des Differenzgehalts für die gesamte Diskriminierungsdauer, umfassend alle Vergütungsbestandteile (Grundgehalt, Boni, Sachleistungen, variable Bezüge). Diese werden als regulärer Vergütungsanspruch behandelt, nicht als Schadensersatz.
Die erweiterten Auskunftsrechte und verschärften Anforderungen der Richtlinie verändern die Risikosituation grundlegend. Während früher die Erfolgsaussichten für Arbeitnehmende bei Diskriminierungsklagen zumeist gemischt waren, ist die Erfolgswahrscheinlichkeit nun ohne entsprechende Dokumentation auf Arbeitgeberseite sehr hoch.
Bei einem durchschnittlichen Risiko von 10.000–30.000 EUR pro Fall und der realistischen Annahme, dass etwa 10 Prozent der Belegschaft Ansprüche geltend machen könnten, entsteht für ein Unternehmen mit 50 Mitarbeitern ein Gesamtrisiko von 50.000–150.000 EUR. Bei größeren Unternehmen potenziert sich dieses Risiko entsprechend.
Schadensersatz und Entschädigung
Zusätzlich zu den Gehaltsnachzahlungen besteht ein Entschädigungsanspruch bei geschlechtsspezifischer Benachteiligung, ohne Obergrenze für immaterielle Schäden.
Bußgelder und Sanktionen
Die Mitgliedstaaten müssen „wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen" erlassen, die zwingend auch empfindliche Bußgelder umfassen. Weitere Maßnahmen können den Entzug von Konzessionen oder den Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen beinhalten.
Geschäftsführerhaftung und ESG
Geschäftsführerhaftung nach dem Legalitätsprinzip: Die Geschäftsführung ist verpflichtet, die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften sicherzustellen. Bei Verstößen gegen die Entgelttransparenzrichtlinie können Geschäftsführer persönlich in die Haftung genommen werden, sofern sie ihrer Überwachungs- und Organisationspflicht nicht nachkommen.
ESG-Compliance: Non-Compliance bei der Entgelttransparenz führt zu einem Verstoß gegen ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance). Das kann Auswirkungen auf Zertifizierungen, Kreditwürdigkeit, Investorenbeziehungen und die Teilnahme an Ausschreibungen haben.
Reputationsschäden
Die Reputationsschäden durch öffentliche Gerichtsverfahren zu Gehaltsdiskriminierung lassen sich zwar schwer pauschal quantifizieren, sind aber in jedem Fall als erheblich für Recruiting und Arbeitgebermarke anzusehen.
Der empfohlene Zeitplan
Wir schlagen eine Implementierung in drei Phasen vor, so wie wir sie mit unseren Masterplan Entgelttransparenz unterstützen:
Phase 1 (Q4 2025) – Durchblick gewinnen: Entwicklung des Vergütungsanalyse-Frameworks nach EU-Kriterien, rückwirkende Dokumentation aller bestehenden Gehälter, Gap-Analyse zur Identifikation nicht erklärbarer Unterschiede.
Phase 2 (Q1 2026) – Strukturen updaten: Dokumentationssystem operational machen, Prozesse für Auskunft und Information implementieren, Recruiting-Prozess anpassen, laufende Dokumentation aller neuen Gehaltsentscheidungen beginnen.
Phase 3 (Q2 2026) – Erfolgreich durchstarten: Testing aller Prozesse, umfassende Mitarbeiterinformation, finale Prüfung der lückenlosen Nachweise, Go-Live zum 7. Juni 2026.
Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen
Die Richtlinie sieht besondere Unterstützung für Arbeitgeber mit weniger als 250 Arbeitnehmern vor: technische Hilfe und Schulungen durch die Mitgliedstaaten, Bereitstellung von Instrumenten und Methoden zur Arbeitsbewertung sowie gebrauchsfertige Vorlagen zur Erfüllung der Transparenzpflichten.
Fazit
Die EU-Entgelttransparenzrichtlinie wandelt Vergütungsmanagement von einer operativen in eine compliance-getriebene Funktion. Die erweiterten Auskunftsrechte und verschärften Anforderungen an die Beweislast machen faire Gehälter zur notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung. Ohne entsprechende Dokumentation nach EU-Kriterien lassen sich selbst gerechtfertigte Gehaltsunterschiede rechtlich nicht verteidigen.
Ein abwartendes Vorgehen bedeutet erhebliche Rechtsrisiken mit potenziell substanziellen Nachzahlungen, Bußgeldern, Geschäftsführerhaftung und anderen schwerwiegenden Konsequenzen – unabhängig von der tatsächlichen Fairness der Vergütungspraxis.
Die zentrale Erkenntnis: Nach dem 7. Juni 2026 gilt rechtlich: Nicht nach EU-Kriterien dokumentiert = nicht beweisbar = vor Gericht verloren. Bestehende interne Systematiken, auch wenn sie fair und durchdacht sind, reichen ohne Anpassung an die EU-Vorgaben keinesfalls aus.